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Martin Schenk über Sündenböcke und die „Ideologie der Gewinner“

Eine blitzförmige Narbe steht auf Harry Potters Stirn. Die Verletzung wurde ihm als Baby zugefügt, als Voldemort, der böse und mächtige dunkle Lord, ihn zu töten versuchte. Diese Narbe schmerzt Harry noch immer, und sie erinnert ihn beständig an seine Mutter, die starb als sie sich schützend vor ihr Baby warf.
Die Narbe sagt, du bist verletzlich. Kein unverwundbarer Held, kein Panzer auf zwei Beinen. „Du brauchst dich für das, was du fühlst nicht zu schämen, Harry, Im Gegenteil, die Tatsache, dass du Schmerz wie diesen empfindest, ist deine größte Stärke.“, so versucht der Leiter der Schule in Hogwarts, Professor Dumbledor, Harry zu ermutigen, seinen Schmerz zuzulassen. Harry ist kein unverwundbarer Superheld, sondern verletzlich. Und was er schafft, erringt er mit der Hilfe anderer.  Da sind seine Freunde Ron und Hermine. Da ist Professor Dumbledor, der in letzter Minute Unterstützung bringt. Da ist der tiefe Gedanke an seinen Vater, der ihm einen Beschützer gegen die lebendig-todbringenden Dementoren schickt. Da ist  Harrys Mutter, die ihn vor Voldemort bewahrt und deren liebendes Vermächtnis Harry stark macht. Es ist die Qualität von Harrys persönlichen Beziehungen, denen er seine Fähigkeiten verdankt.
„Jeder kann gewinnen, wenn er nur will“ oder „jeder ist seines Glückes Schmied“ – das sind die Parolen der vermeintlich unverwundbaren Superhelden. In den letzten Jahren haben sich zwei ideologische Stränge miteinander verwoben. Die Sündenbockgeschichte mit ihrer Kernaussage „Wenn die nicht wären, wäre alles besser“, und die Ideologie der Gewinner: „Jeder kann gewinnen, wenn er nur will.“

Zum Gewinner blickt man nach oben, beim Sündenbock blickt man nach unten. Mit dem Gewinner ist man eins, den Sündenbock schmeißt man raus. „Wenn die nicht wären, wäre alles besser.“ Eine Gruppe finden, die an allem und jedem schuld ist. Schuld an dem, was schief läuft in einem Gemeinwesen. Und sich dann vorstellen, dass alles besser wäre, wenn die nicht mehr da wären.
Daran schließt die Ideologie der Gewinner unmittelbar an. Umgekehrt ausgedrückt: selber schuld, wer es nicht schafft. Diese Ideologie ist besonders wirkungsvoll, weil sie „Verlierer“ beschämt und „Gewinner“ bestätigt. Sie stützt die, die es geschafft haben, und hält die, die am Boden sind, still. An die „Verlierer“ ergeht die Aufforderung, fair zu bleiben, die Niederlage mit einer Gratulation an den „Gewinner“ hinzunehmen, sich schlussendlich mit diesem zu identifizieren. Das Leben – ein olympischer Gedanke. „Dabei sein ist alles“, aber bitte in der unteren Etage. Und bitte immer weiter lächeln! Die großen Enttäuschungen, die Niederlagen, die Risse, dürfen dann gar nicht wahrgenommen werden, da überhaupt keine Enttäuschung wirklich respektiert wird. Alle Enttäuschungen werden beschwichtigt oder zu verlogenen Heldenstories umgebogen.

„Du bist verletzlich“, sagen aber die großen Menschheitsgeschichten. Die Achylesferse erinnerte den griechischen Kämpfer Achyl daran. Und trotz Bad im Drachenblut fiel Siegfried das Lindenblatt auf die verletzliche Schulter. Oder die Geschichte vom Baby in einem Stall – stark und zerbrechlich zugleich.
Unverwundbarkeit ist gar nicht möglich und zu wünschen ist sie auch nicht. Unverletzlichkeit birgt die Gefahr der Gnadenlosigkeit in sich. Denn nur wer selbst verletzlich ist, kann auch die Verwundbarkeit des anderen wahrnehmen. Der große Songwriter Leonard Cohen hätte beim Blick auf Harry Potters Narbe wohl mit seinen berühmten Liedzeilen geantwortet:

„Vergesst euer perfektes Opfer. Da ist ein Riss, ein Riss in allem. So kommt das Licht herein.- Forget your perfect offering /
There is a crack in everything /
That‘s how the light gets in“
Es sind die Risse, durch die das Leben hereindringt.

Der Psychologe Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie und MItbegründer der Armutskonferenz. Er hat lange Jahre mit Wohnungslosen gearbeitet, war in der Begleitung von Jugendlichen und in der Gesundheitsförderung tätig. Schenk ist Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Campus Wien. Zuletzt ist von ihm erschienen: Genug gejammert! Warum wir gerade jetzt ein starkes soziales Netz brauchen,  AmpulsVerlag, 175 Seiten. www.genuggejammert.at