Ein Beitrag von Michael Kerbler
Wahlen werden nicht mehr gewonnen, sondern nur noch verloren. Ja, selbst Wahlen, die von Parteien scheinbar gewonnen werden, werden nur durch große Verluste möglich. Zum Beispiel durch den Verlust der eigenen Erinnerung. Der Erinnerung daran, welche Grundsätze die eigene Partei am Beginn prägten. Welche Haltungen. Welche Veränderung, mehr noch, welche Verbesserungen, welchen Wandel für die Menschen zu erreichen galt. Und was das Unveränderliche, ja Unverzichtbare ist, der Motor der Bewegung, Ursprung und Ziel zugleich. Alles nachzulesen: in alten Parteiprogrammen, zum Beispiel.
Als Person würde ich mich fragen: Was macht mich aus? Welche Grundsätze will ich leben? Und: was lasse ich mir durch nichts und niemanden abkaufen.
Ich gehe am 15. Oktober zur Wahl. Ich gehe schon deshalb zur Wahl, um für diese – obwohl imperfekte – Verfassung zu votieren. Für eine demokratische Republik Österreich. Eine Republik, in der wieder das Volk souveräner Souverän wird. Und deshalb werde ich letztlich jene Partei wählen, die für mich langfristig dabei unterstützt, dass wir wieder Souverän werden.
Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat in einer großen Rede im Weißen Haus im April 1999 gesagt, die größte Inhumanität des 20.Jahrhunderts hätte in der Gleichgültigkeit bestanden. In der Indifferenz gegenüber dem Leid anderer Menschen. Erst dadurch sei der Holocaust möglich geworden. Ist nicht auch heute die Gleichgültigkeit eine der größten Feindinnen für einen Kurswechsel – etwa was den imperialen Lebensstil der westlichen Welt angeht, der ausblendet, welche Folgen mein Handeln für andere Menschen hat.
Jene Partei will ich wählen, die mir glaubhaft erscheint – ob sie es Solidarität oder Nächstenliebe nennt –, dass sie aufsteht gegen Gleichgültigkeit. Und für Mitmenschlichkeit eintritt. Die Würde nicht bloß als Möglichkeitsform von Sein interpretiert. Und die bereit ist, die bedrohte zentrale Errungenschaft liberaler Gesellschaften zu verteidigen: die Freiheit. Um konkret zu werden: unsere Lebensgrundlagen, die Voraussetzung dafür sind, um ein Leben in Freiheit zu führen. Und das sind – global betrachtet – gesunde Nahrung, genießbares Wasser, saubere Atemluft, ein stabiles globales Klima und – last but not least – ein gesicherter Friede. Ohne diese fünf Grundlagen sind Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Eigentumsfreiheit und soziale Sicherheit de facto wertlos.
Die repräsentative Demokratie gehört gestärkt. Partizipation, die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten, ist gefragt. Wir sind gefordert, die Meinung des anderen zu respektieren, was dann gut möglich ist, wenn das gegenseitige Interesse an der Meinung, den Anliegen und den Sorgen des Anderen spürbar ist und nicht von einem verächtlichen Unterton begleitet wird. Und wenn Respekt keine Einbahnstraße ist.
Ich habe also die Wahl. Und ich will wählen. Denn nicht wählen zu gehen, würde jene stärken, die die Zukunft Europas aufs Spiel setzen, weil sie zurück in den Nationalismus taumeln. In einem wirtschaftlich so erfolgreichen Jahr für Österreich können wir auf unsere Leistung stolz sein, wenn wir zugleich erkennen, dass es uns so gut geht, weil wir Teil eines größeren europäischen Ganzen sind.
Ich erinnere mich an meine Mittelschulzeit. An einen Redewettbewerb. Den ich mit den Worten von Paula von Preradovic, sie hat den Text unserer Bundeshymne verfasst, schloss. „Wenn die Völker dieser Erde sich vereinen zum Vergleich, dass für immer Friede werde – komm als erstes Österreich.“ Ja, pathetisch. Zugegeben. Aber es gibt Momente, wo wir an das Friedensprojekt EU erinnern müssen. Weil es nicht selbstverständlich ist, dass es so friedlich bleibt.
Wir müssen den Frieden wollen, wir müssen mehr Demokratie wagen!
Wir dürfen unsere Freiheiten nicht einfach aufgeben.
Und es bleibt dabei: Freiheit bedeutet nicht, das zu tun, was man will. Freiheit bedeutet, das nicht tun zu müssen, was man NICHT will. Und dafür – wenn es darauf ankommt – aufzustehen. Gemeinsam.
Gehen wir wählen.
– Michael Kerbler, Maria Alm, 4. Oktober 2017
Fotocredits: Privat.