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Seit einem halben Jahr sind Kurz & Kickl, Strache, Struppi & Co am Werk. Das Ergebnis: unsere Demokratie, unsere Freiheit, unser Europa sind ernsthaft bedroht. Wer daran etwas ändern will, möge sich engagieren. Und zwar sofort!

Von Ernst Schmiederer

Ja, es gibt viele gute Gründe, zufrieden zu sein. Zumal wenn man Europäer ist. Wenn man in einer Demokratie lebt, in einem Verfassungsstaat wie Österreich etwa. Wenn man zuhause ist in einer wohlhabenden Stadt, in der komfortable Verkehrsmittel pünktlich, gute Schulen gratis und engagierte Bürger in allerlei Lebensbereichen für das Gute tätig sind. Sehr vieles funktioniert mit großer Selbstverständlichkeit jedenfalls so gut, dass wir keinen Gedanken darauf verschwenden müssen. 

Unsere Demokratie hinkt den gesellschaftlichen Realitäten in mancherlei Hinsicht zwar beklagenswert nach (Stichwort: Repräsentation), dennoch erleben wir auch diesbezüglich gelegentlich kleine Highlights. Da zog irgendwann eine erste, in der Türkei geborene Frau in den Nationalrat ein. Damals für die Grünen. Etwas später ist eine weitere in der Türkei geborene Frau Nationalrätin geworden. Diesfalls eine Sozialdemokratin. Seit ein paar Tagen nun ist eine Wiener Ärztin, die im Kongo das Licht der Welt erblickt und ein paar Jahre in London Großstadtflair geatmet hat, stellvertretende Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt. Und ab 3. Juli wird in Person von Romeo Franz endlich der erste Sinto im Europaparlament tätig – ein Mann, der seine Großonkel Paul, Albert und Joschi sowie seine Großtante Bärbel im Holocaust verloren hat. 

Obendrauf kommen in meinem Fall noch jene kleinen Glücksmomente, die den europäischen Wurzeln eines Indentitätskonstrukts Nahrung geben – wenn ich etwa im Weinviertel kilometerlang laufen und dabei die Grenze zu Tschechien überschreiten kann, ohne über diese Grenze nachdenken zu müssen; oder wenn ich am Karnischen Höhenweg tagelang unterwegs sein kann, ohne darauf zu achten, wie oft ich auf der nächsten Etappe von einem Land (Österreich) ins andere (Italien) wechseln werde. 

Wäre ich solcherart wohlgelaunt an einem lauen Sommerabend des vergangenen Jahres beim Heurigen hoch über der Donau mit einer klugen ÖVP-Wählerin oder einem klugen FPÖ-Wähler in ein Gespräch über die Zukunft unserer Heimat geraten, hätten sich die vielleicht genötigt gesehen, meine Freuden mit dem Aufzählen drängender Probleme zu konterkarieren. Aber der Islam, hätten sie vielleicht eingeworfen. Oder: unsere Sprache, die Kinder können ja nicht mehr anständig Deutsch. Und überhaupt: die Zuwanderung. Sehen Sie das denn nicht? Die Frauen. Die Kopftücher. Wohin soll das denn alles führen? Wir brauchen klare Regeln, hätte sie oder er vermutlich gesagt. Strengere Gesetze. Eine Leitkultur, die unser christlich und jüdisch geprägtes europäisches Wertegeflecht beschreibt und insofern schützt, als sich alle Zugewanderten daran halten müssten.

Dann wäre wieder ich dran gewesen. Haben wir ja, hätte ich beruhigend entgegnet. Haben wir, liebe Frau. Haben wir, lieber Mann. Wir haben eine Verfassung, in der unter anderem die Rechte und Pflichten der Menschen im Staat festgeschrieben sind. Die Entscheidungen in unserer Republik basieren auf demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Und dazu kommen noch die Menschenrechte. Wenn Sie es denn unbedingt so nennen wollen, dann haben Sie mit diesen drei Elementen also genau das, was Sie so schmerzlich vermissen: unsere Leitkultur!

Wie gesagt: im Sommer des Jahres 2017 hätte ein Gespräch noch diesen Verlauf nehmen können. Doch das ist vorbei. So zivilisiert geht es heute – ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt des jüngsten Bundeskanzlers – leider nicht mehr zu. 

Angesichts der „Erfolge“ dieser Regierung wirkt meine eingangs geschilderte Zufriedenheit denkbar unpassend. Verfassungsfreunde sind verdächtig geworden, Verteidiger der Menschenrechte ebenfalls und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sowieso. Wer nur erwähnt, dass er eigentlich gerne ohne Grenzkontrollstau in einer Viertelstunde von Salzburg nach Reichenhall fahren würde, ebenso wie das lange Jahre normal war, dem wird vom Fanclub des Kanzlers Nähe zu Angela Merkel und damit im freundlicheren Fall Blauäugigkeit und in der heftigeren Variante Schuld unterstellt: ihr habt sie alle reingelassen, ihr habt behauptet, wir schaffen das! 

Flucht und Migration. So wie Trump und Orban haben auch Kurz und Kickl, Strache, Struppi & Co längst erkannt, dass sie mit diesen Zutaten jederzeit ein potentes Allzweck-Sprengmittel anrühren können. Ein gewisses Maß an Kaltblütigkeit vorausgesetzt, lässt sich damit alles (kaputt) machen. Man kann den Sozialstaat ruinieren, die Reisefreiheit einschränken, die Menschenrechte aushöhlen. Man kann umverteilen (von unten nach oben) und entwerten (Menschen auf der Flucht zu Parasiten, zu Verbrechern, zu Terroristen stempeln). Man kann Nebelwände hochziehen, hinter denen ungestört all das sturmreif geschossen wird, was einem nicht in den Kram passt (die Meinungsfreiheit etwa oder der Verfassungsschutz, der ORF oder die AUVA). Und obendrein kann man – wohlbestallt und großzügig honoriert – auch ein paar Steckenpferde reiten (möglichst braun sollen die Wallache sein, allenfalls auch schwarz) und nebenher sowohl die eigene als auch andere Karrieren zügig aufbauen.  

Wer also heute, nach dem ersten Semester der türkis-schwarz-blau-braunen Herrschaft mit offenen Augen Zwischenbilanz zieht, muss feststellen, dass sich das Land in vielerlei Hinsicht rasend schnell zum Schlechteren verändert hat. 

Mitglieder und Funktionäre der FPÖ produzieren seit dem Regierungseintritt ihrer Partei nicht etwa weniger sondern deutlich mehr einschlägige Einzelfälle als jemals zuvor: hier ein gereimter Aufruf zum Massenmord, dort ein weiterer Rassist, da schon wieder ein neuer Neonazi. “Die Zahl der rechtsextremen Aktivitäten von FPÖ-Politikern hat stark zugenommen”, resümiert das “Mauthausen Komitee Österreich”: “Der Antisemitismus in der FPÖ tritt wieder wesentlich offener zutage. Die FPÖ arbeitet weiterhin eng mit rechtsextremen Kräften im In- und Ausland zusammen.” Das tut im Übrigen auch der Bundeskanzler: zu einer klaren Verurteilung jener rechtsextremen Umtriebe, die in der Partei seines Vizekanzlers an der Tagesordnung sind, hat er sich bis heute nicht hinreissen lassen. Stattdessen wirft er – wie jüngst wieder in einem Interview mit dem Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT – Nebelgranaten („Ich habe einen gesunden Geschichtsbegriff und möchte mir Worte wie Achse oder Heimat nicht von Nazis nehmen lassen“) und attestiert sich selbst „ein anständiges Geschichtsbewusstsein“. Na also, was soll da noch schiefgehen!

Im Ausland pflegt unsere Regierung den Umgang mit Rechtsextremen und Rechtspopulisten ohnehin ganz ungeniert, wie erst dieser Tage zu erleben war: während der Kanzler in Budapest mit Orban und Visegrad gegen Angela Merkel packelt, kuscheln der Vizekanzler und der Innenminister in Italien mit dem dortigen Innenminister, der gerettete Flüchtlinge als „Menschenfleisch“ bezeichnet und Roma und Sinti schon mal vorsorglich zählen lassen will.  

In diesem Sinn kann man der Regierung zugestehen, dass sie ihr erstes Semester mit sehr gutem Erfolg absolviert hat: in denkbar kurzer Zeit („speed kills“) ist viel Unsagbares wieder sagbar, viel Unvorstellbares möglich und viel Gutes schlecht gemacht worden. Man lässt den Gedenkdienst, der seit 25 Jahren Freiwillige in jene Länder entsendet, in denen die Nazis ihre Verbrechen begangen haben, so lange zappeln, bis er betteln kommen muss. Man lässt UNDOK hungern, jene Anlaufstelle, die undokumentiert Arbeitenden gewerkschaftliche Unterstützung anbietet. Und man lässt die Sozialpartnerschaft verhungern, indem man per Initiativantrag, also einseitig ohne die üblichen Verhandlungen und Debatten, eine knallharte Arbeitszeitreform beschließt – auf Kosten jener Menschen, die für Lohn arbeiten müssen, und zu Gunsten derer, die von den resultierenden Lohnsenkungen profitieren. 

Dass Kurz sich nun in einer Allianz mit dem ebenso hemmungslosen CSU-Duo Söder-Seehofer daran macht, Angela Merkel zu demontieren, erscheint da als logischer nächster Schritt. Ein „Erfolg“ auch in dieser Sache wäre dann wohl der potentielle Todesstoß für die Europäische Union wie wir sie kennen. 

Damit ist es mit der Zufriedenheit dann auf sehr lange Zeit vorbei. Das Weltbild, das dieser Bundeskanzler malt, ist nämlich exakt das Gegenteil von dem, wie ich mir die Welt wünsche: ich will Freiheit, er Kontrolle; ich setze auf die Aufklärung, er auf das Vernebeln; ich will, dass den Armen geholfen wird, er macht sie ärmer; ich will mich nicht an die Bilder von ertrinkenden Menschen gewöhnen, er aber verlangt genau das von uns allen; ich erwarte, dass Menschenrechte eingehalten werden, in seiner Partei wird das als „Hyperhumanismus“ verunglimpft. 

Nur für den Fall, dass Sie mir bis hierher gefolgt sind und ebenfalls finden, dass es nun reicht: Es ist hoch an der Zeit, das auch laut und deutlich zu sagen! (Das gilt natürlich auch für Sie, sehr geehrter Herr Landeshauptmann!)

Was diese Regierung tut, rechtfertigt sie gerne damit, dass Sie – „das Volk“, „die Leute“, „die Menschen im Land“ – das von ihr erwarten. Und genau das glaube ich nicht! 

Ich glaube nicht, dass Sie sich wünschen, dass Polizisten auf braunen Wallachen durch die Stadt reiten. 

Ich glaube nicht, dass Sie sich wünschen, zwölf Stunden am Tag, 60 Stunden die Woche arbeiten zu müssen, während ihre Kinder …

Ich glaube nicht, dass Sie sich ein Österreich nach ungarischem Vorbild wünschen. Dass Sie Menschen am Stracheldraht hängen, Menschen in Lagern konzentriert sehen wollen … Ach was, ich spare mir die Aufzählung, Sie wissen ohnehin, wovon ich spreche!

Allerdings glaube ich, dass es noch nicht zu spät ist. Es macht Sinn, sich zu engagieren! Etwas zu tun! Mitzureden! Aufzuklären! Zu widersprechen! Zu sagen, dass Sie dies oder jenes nicht wollen und nicht dulden werden. 

Sie glauben, das bringt nichts? Nun, das erzählen Sie bitte jenen Menschen, die den amerikanischen Präsidenten gerade mit ihrem Engagment in die Schranken gewiesen haben. Eine Woche lang hat Trump sich gebrüstet, dass er sogenannten „illegalen Einwanderern“ die Kinder wegnimmt und sie einsperrt und zur Abschreckung leiden lässt. Dann ist passiert, was man bisher nicht kannte: Trump musste klein beigeben! Stellen Sie sich vor: der öffentliche Aufschrei gegen seine kaltblütige Grausamkeit hat ihn dazu bewogen, diese unmenschliche Maßnahme zurückzunehmen. Mit anderen Wort: Protest wirkt!

Sagen also auch Sie, was zu sagen ist: So nicht, Herr Bundeskanzler! Es reicht!

PS: Wer sind Struppi & Co? Wie Sie wissen, wird die Regierungspartei FPÖ von einer rechtsextremen Akademiker-Clique – sogenannten Burschenschaftern – dominiert. Mitglieder solcher Burschenschaften tragen neben ihren bürgerlichen auch sogenannte Kneipnamen (Bier-, Couleur-, Deck- oder Vulgonamen), heißen also etwa Kattus, Remus, Opus, Cato oder eben Struppi. Damit der Anteil dieser Burschenschafter am Wirken der Regierung nicht zu gering geschätzt wird, werden sie der Einfachheit halber hier allesamt zu „Struppi & Co“.