Leitfaden gegen Antisemitismus von Michael Kerbler

Ein Beispiel aus dem Wiener Alltag.

Miriam B. kommt nach einem Besuch in Budapest zurück nach Wien. Sie steigt am Hauptbahnhof in ein Taxi und nennt dem Fahrer die Zieladresse. Der erkundigt sich freundlich danach woher sein Fahrgast angereist sei. „Aus Budapest“, antwortet sie. Der Chauffeur lächelt. „Ich stamme aus Ungarn, müssen Sie wissen!“ Eine Konversation beginnt. In ungarischer Sprache, denn die Frau, die im Fond des Wagens sitzt, hat eine Mutter, die in Ungarn geboren wurde. Der Mann erzählt ihr allerlei aus seinem Leben, spricht von seinen Töchtern, von seinem Enthusiasmus für Fußball und seine Vorliebe für Sauerkraut. Von Politik kein Wort. Als er in die Mariahilfer Straße abbiegt und auf jenen Bereich zufährt, der durch zahlreiche Einbahnen geregelt ist, sagt der Mann plötzlich – auf Ungarisch: „Seit sie diese Einbahnen alle umgeändert haben würde ich am liebsten alle Juden nehmen, an die Wand stellen und sie alle erschießen. Zweimal. Einmal in den Kopf und einmal in die Kehle!“ Erschrocken und entsetzt fragt die junge Frau. „Wie bitte?“ Und er wiederholt den Satz, erzählt sie, und fügt hinzu: „Der Orban tut sowieso was er kann, aber er kann nicht alles machen.“ Ein Stau bildet sich in der Gasse, die junge Frau sieht eine Chance den Wagen zu verlassen, sagt, dass sie aussteigen will, bezahlt und bekommt mit der Rechnung auch die Visitenkarte des Chauffeurs.

Das „Forum gegen Antisemitismus“ (1) in Wien, an das sich Miriam B. wendet, empfiehlt der jungen Frau, zur Polizei zu gehen und dort den Vorfall zu melden. Man bot ihr an, sie zu begleiten. Doch Miriam B., sie ist Jüdin, war sich sicher: das kann ich auch alleine schaffen. Und geht im 6. Bezirk in das Kommissariat in der Kopernikusgasse. Dort erklärt sie der Polizistin, die ihr die Türe öffnet, dass sie Anzeige erstatten möchte. Die Polizistin zögert zuerst, lässt sie dann aber ein. Miriam B. schildert was vorgefallen ist.  Sie wirft einen Blick auf ihre Aufzeichnungen. Und dann, sagt sie, hat die Polizistin die Kollegen im rückwärtigen Teil des Kommissariats gefragt: „Was mach‘ ma, wenn da einer Juden erschießen will?“.

Die nächsten Minuten hat Miriam B. als „ausgesprochen unangenehm“ in Erinnerung. Denn zuerst wird sie befragt, ob sie einen Augen- bzw. Ohrenzeugen benennen kann, der ihre Angaben bestätigt. Oder ob sie das Gespräch aufgenommen (mit dem Handy) oder ein Foto gemacht habe. Nein, Zeugen habe sie nicht, sie sei doch alleine im Taxi gesessen. Nein, das Gespräch habe sie nicht aufgenommen. Außerdem: der schreckliche Satz sei ganz plötzlich gekommen. Dann, beschied ihr die Polizistin unter Hinweis auf einen vor ihr liegenden Gesetzestext, könne nur eine Meldung, nicht aber eine Anzeige aufgenommen werden. Worauf Frau B. dann auch beharrt.

Ein Polizist notiert daraufhin den Ablauf des Geschehens und die Äußerungen des Taxifahrers und die auf der Visitenkarte befindlichen Daten. Miriam B. erinnert sich an den Rat eines rechtskundigen Bekannten, einen Ausdruck des polizeilichen Protokolls zu verlangen. „Nein, das geht nicht“, sagt der Polizist auf die mehrmalige Nachfrage. Bietet schließlich aber – weil sie insistiert – an, ihr die Aktenkennzahl zu nennen. Die Frau B. dann auch notiert. Und sich verabschiedet.

Welche Lehren sollte der Staatsbürger, die Staatsbürgerin aus diesen Erfahrungen von Miriam B. mit der Behörde ziehen?

 

 Die Wiener Rechtsanwältin Dr. Maria Windhager empfiehlt, sich in einem wie von Miriam B. beschriebenen Vorfall möglichst rasch Notizen zu machen: 

  • Der Wortlaut der inkriminierten Äußerungen solle möglichst genau notiert werden (Tipp: so ein Handy in Griffnähe liegt, können die wichtigsten Informationen auf den Sprachrecorder gesprochen werden. Aber Vorsicht bei der Aufnahme des Sprechers selbst: die Weitergabe von Tonaufnahmen nicht öffentlicher Aussagen an Dritte kann strafbar sein! (§120 StGB)) 
  • Ort, Uhrzeit und Datum und andere relevante Anhaltspunkte (z.B. KFZ-Kennzeichen) sollen ebenfalls notiert werden 
  • Jede/r Staatsbürger*in hat das Recht der Behörde Meldung über solche Vorfälle zu erstatten und die Behörde hat die Pflicht, diese Meldungen entgegenzunehmen, sofern es sich um strafbare Handlungen handelt (§ 80 StPO). Eine Ausnahme sind „Privatanklagedelikte“ wie „Üble Nachrede“ oder „Beleidigung“. Hier müssen Betroffene selbst vor Gericht gehen. 
  • Um solche Äußerungen den Behörden zur Kenntnis zu bringen, seien zwei Wege möglich, so RA Windhager:

1)  persönlich ein Polizeikommissariat aufzusuchen, um Meldung zu erstatten 2) eine Meldung in schriftlicher Form an die Behörde zu senden (das kann das Wohnsitzkommissariat sein, es kann aber auch an das BVT, das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, sein). In jedem Fall empfiehlt es sich den Brief eingeschrieben zu schicken. Fordern Sie die Behörde in dem Schreiben auf mitzuteilen, unter welcher Aktenzahl ihre Meldung erfasst und bearbeitet wird. 

  • Sofern Sie selbst Betroffener sind (z. B. wenn Sie persönlich bedroht oder diskriminiert werden) erklären Sie, sich dem Verfahren als „Privatbeteiligter“ anzuschließen. Dadurch erhalten Sie das Recht auf Akteneinsicht und müssen über den weiteren Verlauf des Verfahrens informiert werden.

 Verlangen Sie eine Kopie des Schriftsatzes. Wenn Ihnen diese Kopie nicht ausgehändigt wird (z. B. weil Sie nicht selbst betroffen, sondern bloßer Zeuge sind) empfiehlt es sich die Aktenzahl zu erfragen.

 

Miriam B. wurde kurze Zeit nach den von ihr gemeldeten antisemitischen Äußerungen des Taxilenkers zu einem Gespräch ins BVT, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, eingeladen. Ihre Meldung war offenbar ernst genommen worden. Zu Recht hat die junge Frau auf dem Kommissariat verlangt, dass ihre Meldung ad acta genommen wird, weil nicht toleriert werden darf, dass solche Hasstiraden alltäglich werden.

70 Jahre danach wissen wir nur zu gut: „Erst wird gesagt, dann wird getan!“

 

 

Fußnote:

(1): Die Zahl der – gemeldeten (!) – antisemitischen Vorfälle in Wien hat sich zwischen 2014 – 2017 verdreifacht, berichtet das Forum gegen Antisemitismus).