ein Artikel von Rubina Möhring

Von Anstand ist längst keine Rede mehr – weder in Ankara, noch in München, auch nicht in Wien

Der temporäre, österreichische EU-Ratsvorsitz – untergeordnet dem EU-Ratspräsidenten – plant offenbar, in Sachen Menschenrechte und Asylpolitik die Schrauben anzuziehen. Die Genfer Flüchtlingskonvention wird womöglich intern nur noch als ein zu vernachlässigendes Gedankengut angesehen. Stattdessen steht in Sachen Flüchtlingspolitik Menschenverachtung bei der Regierung Kurz ganz hoch im Kurs. Mancherorts wird bereits von mangelnder Pietät gesprochen. An Vorbildern fehlt es jedenfalls nicht.

In der Türkei ließ sich Anfang dieser Woche Recep Tayyip Erdoğan mehr oder minder zum Selbstherrscher über alle türkischen Staatsbürger, -bürgerinnen ernennen.  Ganz demokratisch, keine Frage. Zum Auftakt wurden noch in Windeseile 18.500 Staatsbedienstete entlassen, darunter 1.000 Angehöriger des Justizministeriums und 650 Angestellte des Bildungsministeriums.  Nebstbei wurden in einem Aufwasch zwölf Vereine, drei Zeitungen und ein TV-Sender geschlossen.  Eine, wie man so schön sagt, „runde Sache“. Sultan Erdoğan, wie sich der türkische Präsident heute, im 21. Jahrhundert, gern nennen lässt, schien nur kurz mit dem Finger geschnippt zu haben – und es geschah. Demnächst soll der Ausnahmezustand aufgehoben werden. Warten wir es ab.

 

Fake-News in den USA

In den USA verbreitet währenddessen deren Präsident Trump Fake-News über die angeblich steigende Kriminalität bei Asylwerbern in Deutschland. Faktenchecks ergaben: Das Gegenteil ist der Fall. Manche Politiker, Politikerinnen nehmen solche Falschmeldungen trotzdem gern als bare Münze – sie passen so verdammt gut in ausländerfeindliche Konzepte. Und Trump ist immerhin nicht nur Trump sondern der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

In Deutschland selbst feierte kürzlich der deutsche Innenminister Seehofer seinen 69. Geburtstag. Und siehe da, justament an diesem Tag, dem 4. Juli, wurden 69 Flüchtlinge aus Afghanistan wieder zurück in ihr Geburtsland abgeschoben. Seehofer hatte sich riesig gefreut – schließlich kommen an „normalen“ Tagen nur maximal zehn abgelehnte Asylwerber zusammen. Er habe das so nicht bestellt, beteuert er. Heißt das, er hätte dies tun können? Irgendjemand wollten ihm offenbar in vorauseilendem Gehorsam mit dieser geschmacklosen Idee eine Freude machen. Mit Erfolg.

 

Geburtstagsgeschenk

Nicht von ungefähr erinnert diese Begebenheit an den Tod der russischen Journalistin Anna Politkowskaja. Sie wurde in Moskau am 7. Oktober 2006 im Eingangsbereich ihres Wohnhauses von hinten mehrfach angeschossen und schließlich per Kopfschuss hingerichtet. Manche sprachen damals von einem Geburtstagsgeschenk für den russischen Staatslenker. Die gedungenen Mörder wurden gefunden, deren Hintermänner nicht.

Für den aus Bayern stammenden deutschen Innenminister Seehofer war und ist das künftige Schicksal der abgewiesenen Asylwerber kein Thema. Auch nicht, dass sie, wenn sie wieder dort ankommen, woher sie gekommen waren, als Staatfeinde klassifiziert und wiederum um ihr Leben bangen müssen. Einer der aus Deutschland abgeschobenen Afghanen hat nun dieser Tage in Kabul Selbstmord begangen. In einem Billighotel, organisiert von …., in dem kurzfristig Menschen wie er beherbergt werden. Menschen, die nicht wissen, wohin sie sich wenden, wohin sie gehen können.

 

Sind Asylwerber Menschen 2. Klasse?

Das österreichische Außenministerium rät übrigens generell von Reisen nach Afghanistan ab. Es gilt die höchste Sicherheitsstufe: für Österreicher, die als Ausländer nach Afghanistan kommen, nicht jedoch für Afghanen, die als Ausländer aus Österreich abgeschoben werden. Sind Asylwerber Menschen zweiter Klasse? Gelten für Asylwerber andere Gesetze im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonvention?

In Österreich können derzeit offenbar die FPÖ-Granden Vizekanzler Strache und Innenminister Kickl schalten und walten, wie es ihr nationalistisches Herz begehrt. Der Kanzler, der Kopf der Regierung, ist, so scheint es, lieber auf Reisen. Allerdings, selbst wenn er in Wien ist, dürfte das, was seine Regierung in Sachen Sozial- und Menschlichkeitsabbau treibt, sein Wohlgefallen finden. Frage: warum tritt er diese Reisen nicht an seine Außenministerin ab, um zuhause als volksnaher Kanzler zu fungieren?

Alles in allem werden tagtäglich demokratiepolitische Grundprinzipien ins Ausgedinge geschickt. Von Anstand ist bei diesem politischen Kurs längst keine Rede mehr. Auch die türkisen ÖVP-Regierungsmitglieder ziehen inzwischen brutal die Zügel an. So etwa hatte jüngst der Kabinettschef des Bildungsministers mit einer ministeriellen Delegation unangemeldet die Direktorin einer AHS aufgesucht. Warum? Um diese abzumahnen und ihr einen Maulkorb zu verpassen. Sie hatte begründete Kritik an den vorgesehenen separaten Deutschklassen für Ausländerkinder geübt.

 

Kooperation der Tätigen

Im österreichischen Tirol fand bekanntlich dieser Tage ein Sondergipfel europäischer Innenminister statt. Eine „Kooperation der Tätigen“ wurde dieses Treffen genannt, nachdem die bisher geläufige Kurz’schen Diktion „Achse der Willigen“, zu sehr nach vergangenem Nazi-Deutsch gemüffelt hatte. Wie eigentlich konnte dieser sprachliche Lapsus passieren? – Die nun in Tirol zusammengetroffenen willig Tätigen, das waren die Innenminister Deutschlands, Italiens und Österreichs. Drei stramme Nationalisten.  Alles klar?  Alle drei sind einer humanen Flüchtlingsdebatte überdrüssig. Allenfalls Italiens Standpunkt als einer der bisherigen Zielhäfen der Bootsflüchtlinge ist ein wenig leichter zu verstehen. Die Schwafelei von „Anlaufstellen“ außerhalb der europäischen Union hingegen nicht.

In Deutschland heißt es derzeit landauf landab, Innenminister Seehofers Zynismus im Zusammenhang mit den 69 abgeschobenen, afghanischen Asylwerbern sei kaum zu überbieten. Da hilft auch nicht, dass er nachträglich den Freitod des abgeschobenen Asylwerbers bedauerte.  – Wie aber schaut es mit Seehofers österreichischen Amtspendant aus?

In dessen Ministerium wird vor allem viel Geld in die Hand genommen, um Panikmache zu betreiben.  Im Dienst einer inzwischen schon zu oft zitierten Sicherheit: Angst vor Ausländern, Angst vor Demonstranten, Angst generell vor „Vaterlandsfeinden“, soll offenbar die ganze Bevölkerung Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch näher bringen- Man stelle sich vor, diese Rechnung ginge auf. Dann müssten sich Kickl und Co allesamt die Haare blondfärben lassen, um nicht vielleicht mit Arbeitsmigranten aus den Balkanstaaten verwechselt zu werden.

Ein strategischer Gedanke der heutigen österreichischen Regierung dürfte sein:  Machen wir die Grenzen zu, müssen wir auch keine Asylanträge annehmen, Österreich wird zunehmend ausländerfrei und wir bleiben unter uns. Veranstalten wir also für die Medien und damit auch für das ganze sogenannte Volk ein riesiges, wenn auch kostenintensives Spektakel:  Österreich wehrt sich gegen Fremde und schützt das Land vor Flüchtlingen.

Dreh- und Tatort war Spielfeld, der Grenzübergang nach Slowenien. Eine Absurdität am Rande: Polizeischüler und -schülerinnen müssen bedrohlich wirkende Ausländer – „illegale Migranten“ – spielen, die im Begriff sind den Grenzzaun zu ruinieren, um als Flüchtlingsstrom Österreich zu überfluten. Doch die Sicherheitsbeamten verteidigen standhaft und erfolgreich ihr kleines, aber feines Heimatland. Die slowenische Regierung war übrigens über diese Inszenierung überhaupt nicht erfreut und reagierte mit Kritik und Protest.

Fast zeitgleich werden in Wien dringend Pferde gesucht für die künftige berittene Polizei.  Kritisch fragende Journalisten und Journalistinnen werden mit Zweifeln an deren Professionalität abgekanzelt, investigativ recherchierende Medienschaffende werden überwacht, schließlich beim Namen genannt und damit an einen imaginären Pranger gestellt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird gegängelt, dessen Redaktionsmitgliedern der Unbotmäßigkeit bezichtigt. All dies im Dienst der Sicherheit.

 

Geld, das woanders fehlt

Hoch zu Ross ist die Regierung Kurz unterwegs, seit sie im Regierungssattel sitzt, und sichtbar spendabel ist sie trotz Sparkurs bei Sicherheitsinnovationen. Man stelle sich vor, all diese Gelder, die allein in die oben beschriebenen Aktionen flossen und künftig fließen werden, würden dem Bildungswesen, der Kinderbetreuung oder der medizinischen Versorgung der gesamten Bevölkerung gewidmet. Man stelle sich vor, Hofberichterstattung wäre nicht geduldet, kritische Berichterstattung hingegen wieder als konstruktives Korrektiv verstanden. Man stelle sich vor, Österreich präsentierte sich als Paradebeispiel für erfolgreiche Integration von Flüchtlingen in der ganzen EU.  Dann brillierte Österreich mit zukunftsorientierten großzügigen Vorgaben und nicht, wie EU-Präsidenten Jean Paul Juncker „versehentlich“ in Richtung Bundeskanzler Kurz meinte, durch vollmundige Großspurigkeit.  Dann wäre Österreich wirklich ein feines Land, klein aber oho.

 

P.S.

 Auch dieser Traum ist, kaum formuliert, schon wieder ausgeträumt. Zerschmettert durch eine unglaubliche, verbale Attacke des FPÖ-Generalsekretärs Harald Vilimsky. Erdreistete sich dieser doch, den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Paul Juncker den Rücktritt nahezulegen. Warum? Weil Juncker an dem NATO-Treffen am 11. Juli offensichtlich gehbehindert teilgenommen hatte. Eine Langzeitfolge eines früheren schweren Verkehrsunfalls. Später stand ein Rollstuhl bereit.

 

Untragbare Verbalattacke gegen EU-Politiker

Der FPÖ-Generalsekretär erregte sich und geiferte, Junckers Gehschwierigkeiten seien auf Trunkenheit zurückzuführen.  Mag sein, dass es in den der FPÖ nahestehenden Burschenschaften Usus ist, am helllichten Tag alkoholisiert herum zu torkeln. Bei hochrangigen Politikertreffen ist dies sicher nicht der Fall. Seitens der österreichischen Regierung kam bisher keine wahrnehmbare Entschuldigung. Nicht Junckers sondern Vilimskys Rücktritt ist dringend angesagt. Doch Kanzler und Vizekanzler schweigen laut und deutlich. – Nicht sehr fein, dafür sehr aussagekräftig und alles andere als oho.

Bruno Kreisky hatte einst das kleine Österreich zu einer international respektierten Größe gemacht. Nicht zu einem der großen Mainplayer, wozu auch, aber doch zu einem sehr ernst zu nehmenden politischen Partner und Impulsgeber.  Die jetzige Regierung wirkt vornehmlich provinziell und unsozial. Im Rahmen der Europäischen Union will sie Brücken bauen. Schöne Worte. Innerhalb der Regierungsparteien sind jedoch Politiker vom Typ Vilimsky Garanten für Sollbruchstellen. Man darf gespannt sein, wieviel Trümmer insgesamt Ende des Jahres angehäuft sein werden.